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Einer lateinischen Widmung auf der Spur. Fernand Hoffmanns Standort Luxemburg


[About the article]
 
Toto amico quia turpe est hominem luxemburgensem res domesticas ignorare. Fern. Hoffmann 14.IV.1976
 
Im Nachlass von Fernand Hoffmann (1929-2000) befindet sich ein unscheinbares Buch mit dem prosaischen Titel Standort Luxemburg, hinter dem man ebenso gut eine trockene Abhandlung über den Finanzplatz wie eine geographische Beschreibung unseres Landes vermuten könnte. Schlägt man das Buch auf, so sieht man auf der ersten Seite obige handgeschriebene Notiz auf Latein. Auf Deutsch übersetzt lautet die Widmung: "Für meinen Freund Toto, denn es ist beschämend, wenn ein Luxemburger die heimischen Dinge nicht kennt." Unterzeichnet ist sie vom Verfasser des Werks, Fernand Hoffmann, zwei Jahre nach Erscheinen des Buches. Wer ist dieser Toto, weshalb steht in diesem betont luxemburgischen Band eine Widmung auf Latein, und welche 'heimischen' Dinge sind es, die man nach Auffassung des Schreibers als Luxemburger unbedingt kennen sollte?
 
Diese letzte Frage zumindest lässt sich leicht beantworten, wenn man den Autor des Werkes kennt. Wer sich in den 1970er Jahren für die Geschichte der Luxemburger Literatur interessierte, kam um einen Namen nicht herum: Fernand Hoffmann. Von Beruf war Hoffmann Deutschlehrer. Daneben interessierte er sich leidenschaftlich für die Entwicklung der deutsch- und luxemburgischsprachigen Literatur in Luxemburg. Seit den 1950er Jahren betreute er den Kulturteil des Luxemburger Worts. Dabei tat er nicht nur zu jeder literarischen Neuerscheinung seine Meinung kund, sondern erhob auch selbstbewusst den Anspruch, landesübergreifend meinungsbildend zu wirken. Sein jovial-lobender, immer wieder aber auch schulmeisterlich-tadelnder Stil polarisierte oftmals die Gemüter: für seine Freunde und Bewunderer galt er als der Luxemburger Literaturpapst schlechthin;1 viele, vor allem jüngere Leser stieß er damit jedoch vor den Kopf. Im Gegensatz zu seinen literarischen Verarbeitungen des sozialen und politischen Klimas im Nachkriegsluxemburg (z.B. Pier Beautemps) erlangten Hoffmanns literaturhistorische Werke weitreichende Anerkennung. Seine zweibändige Geschichte der Luxemburger Mundartdichtung, die 1964 und 1967 erschien, avancierte rasch zum Standardwerk. Es folgten Abhandlungen über das Theater in Luxemburg und den Luxemburgischunterricht in der Schule.
 
Neben diesen Veröffentlichungen setzte sich Hoffmann auch im Rahmen seines Berufs für wissenschaftlich fundierte Luxemburgstudien ein. Seit Ende der 1960er Jahre unterrichtete er deutsche und luxemburgische Literatur- und Sprachwissenschaft am Institut pédagogique, später auch am Centre universitaire. Dabei ging es ihm vor allem um ein zusammenhängendes, geschichtsbasiertes Kultur- und Literaturverständnis, wie ein kommentiertes Verzeichnis seiner Kurse aus dem Schuljahr 1973/74 zeigt.2 Doch nicht nur Germanistikstudenten sollten seiner Meinung nach einen Überblick über die Luxemburger Kultur erhalten, sondern auch ein breiteres Publikum. So erschien 1974 sein 317-seitiges Werk Standort Luxemburg, in dem die zuvor erwähnte Widmung enthalten ist.
 
Das Buch bietet eine Analyse der Luxemburger Kultur, mit Schwerpunkt auf der Literatur. Im Vorwort heißt es: "Wer in Luxemburg schreibt, kommt früher oder später nicht daran vorbei, sich mit der Tatsache, Luxemburger zu sein, auseinanderzusetzen. So ist denn dieses Buch als der bescheidene Versuch eines Einzelnen zu verstehen, in der kritischen Reflexion über das Volk, zu dem er gehört, zu einem klareren Begreifen seiner selbst und seines Schaffens zu kommen."3 Diese Reflexion gestaltet sich in Form von Essays, die größtenteils bereits als Zeitungsartikel erschienen waren, vor allem in der Beilage Warte-Perspectives. Es handelt sich also gewissermaßen um eine Best of von Hoffmanns Beiträgen zur Luxemburger Literatur.
 
Das Buch besteht aus drei Teilen. Unter der Rubrik Luxemburg aus der Sicht des Publizisten liefert Hoffmann eine Bestandsaufnahme der Luxemburger Gesellschaft der 1970er Jahre, gespickt mit literarischen Zitaten und Aussagen von Jugendlichen, sowie eigenen Überlegungen zum mangelnden Kulturinteresse vieler Luxemburger. Im zweiten Teil, Luxemburg aus der Sicht des Mundartforschers, diskutiert er die Stellung des Luxemburgischen im nationalen und internationalen Kontext und analysiert die – typisch luxemburgische Wesensart anhand der Sprache. Der letzte und größte Abschnitt, Luxemburg aus der Sicht des Literaturhistorikers und Kritikers, besteht aus Artikeln über luxemburgischsprachige Schriftsteller und ihre Werke. Hier finden sich naturgemäß vor allem die Autoren aus Hoffmanns Geschichte der Luxemburger Mundartdichtung wieder.
 
Standort Luxemburg beschreibt nicht nur Luxemburg, sondern auch Fernand Hoffmann selbst. Das Buch zeigt den Literaturwissenschaftler so, wie er auch später in einem Nachruf dargestellt wird: "Fernand Hoffmann war ein Luxemburger durch und durch. Alles in seiner Art zu reden, zu reflektieren, aufzunehmen, zu leben, trug irgendwie den Geruch des 'terroir' an sich."4 Das Thema des Buches und das rege Interesse des Autors für heimatliche Literatur erklären auch die Widmung. Durch Hoffmanns Werk sollten die Luxemburger ihre nationale Kultur kennen und schätzen lernen, denn er fand es schändlich, dass viele seiner Landsleute in deutscher und französischer Literatur bewandert waren, aber nicht in der eigenen.
 
Galt das auch für jenen Toto, an den die Widmung gerichtet war? Es handelt sich hierbei vermutlich um den Luxemburger Kriminalwissenschaftler Armand Mergen (1919-1999), der bereits 1938 unter seinem Spitznamen Toto den Feuilletonroman König Mack Adam im Satireblatt De Mitock veröffentlicht hatte. In der Folgezeit machte sich Mergen vor allem als Fachbuchautor einen Namen. Ab 1953 hatte er einen Lehrstuhl für Kriminologie an der Universität Mainz inne und veröffentlichte zahlreiche Studien zu diesem Thema.5 Er interessierte sich aber auch weiterhin für Literatur, wie etwa seine Freundschaft mit dem belgischen Schriftsteller Georges Simenon bezeugt.6 Obwohl berufsbedingt zumeist in Deutschland tätig, veröffentlichte er weiterhin Artikel in Luxemburger Zeitungen und unterhielt ab 1978 die Rubrik Abee jo im Journal.
 
Hoffmann war mit Mergens kriminalwissenschaftlichen Arbeiten bestens vertraut, wie eine Liste aus seinem Nachlass belegt, in der er Buchrezensionen und Autorenporträts aus der Zeit zwischen 1944 und 1973 aufführte, die ihm für seine Studien besonders interessant schienen. Mergen taucht gleich in fünf Artikeln auf: Eine Neuerscheinung auf juristischem Gebiet (Luxemburger Wort 02.12.1953), La Prostitution (Luxemburger Land [LL] 1963/13), Justitia contra Eros (LL 1964/7), Mergens Kriminologie (LL 1968/5) und Kriminologe Prof. Dr. Armand Mergen (LL 1969/9).7 Obwohl Hoffmann nicht zu Mergens engerem Freundeskreis gehörte,8 schien er sich dennoch sehr für sein Schaffen zu interessieren.
 
Man kann davon ausgehen, dass Hoffmann nicht dachte, Mergen brauche Nachhilfe in Luxemburgistik. Warum dann die Widmung, noch dazu auf Latein? Die Antwort lautet, dass der Spruch gar nicht von Hoffmann stammt, sondern ein in der luxemburgischen Geschichtskunde wohl bekanntes Zitat ist.9 Es taucht bereits 1634 in Alexander Wiltheims Res Munsteriensium auf. Die Neuausgabe von 1923 war Hoffmann vermutlich ein Begriff, wahrscheinlicher ist aber, dass er das Zitat aus einer anderen Quelle kannte: 1838 verfasste der Gymnasiallehrer Joseph Paquet ein Buch mit dem Titel Hauptthatsachen der Luxemburger Geschichte. Auf dem Deckblatt steht in kleinen Druckbuchstaben zu lesen: "Turpe est hominem Luxemburgensem res domesticas ignorare. Res munst. Praef."
 
Im Gegensatz zu Hoffmann gibt Paquet seine Quelle also an. Da die Landeskunde 1837 zu einer "Abtheilung des Geschichtsunterrichts am Athenäum erklärt" worden war, war Paquet der Meinung, deren Kenntnis müsse "demnächst das höchste Interesse haben für jeden, dem sein Vaterländchen theuer ist, so wie für jeden der nach irgend einem Wirkungskreise in demselben strebt."10 Er hatte mit seinem Werk also das gleiche Anliegen wie Hoffmann später mit dem seinigen.
 
Paquets Hauptthatsachen der Luxemburger Geschichte erreichte eine hohe Verbreitung, und mit ihm auch die Kenntnis von Wiltheims Zitat. Nur neun Jahre später benutzt J.F. Gangler es in seinem neu erschienenen Lexicon der Luxemburger Umgangssprache. Wie Gangler im Vorwort schreibt, wollte er in erster Linie ein praktisches, dreisprachiges Wörterbuch für seine Landsleute schaffen. Gleichzeitig war er sich jedoch bewusst, dass er damit ein Standardwerk schuf, das eine systematische Erforschung der Luxemburger Sprache ermöglichte. Er schloss sein Vorwort mit dem Satz: "Das von Hrn. Dr Professor Paquet zu seinen 'Haupthatsachen [sic] der Luxemburger Geschichte' gewählte motto: Turpe est hominem Luxemburgensem res domesticas ignorare, mag hier zum Schlusse seinen Platz finden."11
 
Auch heute wird das Zitat noch zuweilen benutzt. Ein rezentes Beispiel ist E.L. Wies' Chronik des Dorfes Ellingen, die 2012 erschien.12 Wies arbeitet die Geschichte seines Heimatdorfes anhand von Quellen ebenso gründlich heraus wie Paquet dies für das Luxemburger Land tat. In Zum Geleit setzt Wies den lateinischen Satz vor seine eigenen Ausführungen, und verweist wiederum auf Paquet.
 
Obwohl also Paquet den meisten heute als Quelle dient, lautet das Originalzitat interessanterweise ein wenig anders als von ihm überliefert. Im Ursprungstext erklärt Wiltheim, weswegen er die Geschichte der Abtei Münster im Stadtgrund niedergeschrieben hat: "Quod si autem turpe est hominem Luxemburgensem res domesticas ignorare, erit res Munsterienses cognoscere pulchrum atque laudabile. " 13 [Wenn es jedoch für den Luxemburger beschämend ist, die heimatlichen Dinge nicht zu kennen, so wird es schön und lobenswert sein, sich in Sachen Münster-Abtei auszukennen.] Um ihn allgemein gültig zu machen, kürzte Paquet den Satz und zitierte nur den ersten Teil.
 
Das Zitat wurde also jedes Mal, sowohl im Original als auch bei Paquet, Gangler und Wies, benutzt, um eine detaillierte Studie zu einem Teilaspekt der Luxemburger Kultur zu rechtfertigen. Und genau dies will auch Hoffmann mit seinem Standort Luxemburg erreichen. Bleibt nur die Frage, weswegen er Armand Mergen das Buch scheinbar nie überreicht hat. Es befindet sich nämlich, wie oben erwähnt, in Hoffmanns Nachlass. Erschien ihm die Widmung für einen Freund der Luxemburger Literatur im Nachhinein vielleicht unpassend? Hoffmann hat in der Widmung einen Verschreiber verbessert. Vielleicht wollte er Mergen ein makelloses Widmungsexemplar überreichen und hielt das vorliegende Buch daher zurück? Oder war das Buch für einen anderen, bis dato der Forschung unbekannten Toto bestimmt? Diese Fragen gehören zu den res domesticae, deren Antwort wir – so beschämend es auch sein mag – vorerst noch nicht kennen.
 

 
Bibliographie:
 
1 Z.B. Abschied vom Literaturpapst. In: Tageblatt, 24.11.2000, S. 15.
2 Vierseitiges, maschinengeschriebenes Vorlesungsverzeichnis aus dem Nachlass des Autors. CNL L-200; III.1-10.
3 Fernand Hoffmann: Standort Luxemburg. Luxemburg: Sankt-Paulus-Druckerei 1974, S. 9.
4 Joseph Kohnen: Bene meritus est. Zum Tode Fernand Hoffmanns. In: nos cahiers 22 (2001) 1, S. 9-15, hier S. 10.
5 U.a. Die Wissenschaft vom Verbrechen. Hamburg: Kriminalistik 1961; Das Teufelschromosom. Essen: Bettendorf 1995.
6 Z.B. Brief von Georges Simenon an Armand Mergen, 14.02.1984. CNL, Autographensammlung, AU-21.
7 CNL L-200; I.11-9.
8 Laut einem Telefongespräch mit Mergens Witwe am 15.05.2013 kannten sich Mergen und Hoffmann persönlich nicht näher.
9 Einen herzlichen Dank an Roger Muller, der mich darauf aufmerksam machte.
10 Joseph Paquet: Die Hauptthatsachen der Luxemburger Geschichte, zur Grundlage bei seinem Unterrichte. Luxemburg: J. Lamort 1838, S. 3.
11 François Gangler: Lexicon der Luxemburger Umgangssprache. Luxemburg: V. Hoffmann 1847, S. VI.
12 Emile Louis Wies: Ein Dorf zwischen Tradition und Zukunft. Ellange: [E. Wies] 2012.
13 Alexander Wiltheim: Res Munsteriensium. Luxembourg: Ch. Beffort 1923, [Neuausgabe], S. 1.
 

 

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