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Rosemarie Kieffer und Tschingis Aitmatow. Luxemburgisch-kirgisische Literaturkontakte


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В знак уважения - Роз-Мари Киффер! 18.04.94. Люксем Ч.А.
B znak uvazhenija – Roz-Mari Kiffer! 18.04.94. Ljuksem Tsch.A.
Im Zeichen des Respekts (Hochachtungsvoll) – Rose-Marie Kieffer! 18.04.94. Luxem[burg] Tsch[ingis] A[itmatow]
 
Vor einigen Monaten wurde der Nachlass der luxemburgischen Autorin Rosemarie Kieffer (1932-1994) vom Lycée Robert-Schuman in Luxemburg (LRSL), wo Kieffer jahrzehntelang unterrichtete, zur Verwaltung und Aufarbeitung an das Luxemburger Literaturarchiv übergeben. Im Nachlass befinden sich zahlreiche Widmungsbücher – vom LRSL mit einem eigens hierfür angefertigten Stempel 'Don Rosemarie Kieffer' versehen – in verblüffend vielen verschiedenen Sprachen. Neben Deutsch und Französisch gibt es unter anderem Zueignungen auf Griechisch, Tschechisch, Russisch und Georgisch. Viele davon sind von international eher weniger bekannten Schriftstellern und Übersetzern, doch die hier abgebildete russische Widmung stammt von einem weltweit anerkannten zeitgenössischen Autor: dem kirgisischen Schriftsteller und Diplomaten Tschingis Aitmatow (1928-2008).
 
Rosemarie Kieffer bezeichnet Aitmatow in einem Artikel 1975 als "le plus grand écrivain de la langue russe et le plus grand écrivain de l'Union Soviétique."1 Auf jeden Fall ist er einer der am meisten übersetzten russischsprachigen Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zweifellos der bekannteste Schriftsteller Kirgisiens. Seit Louis Aragons französischer Übersetzung der Erzählung Dshamilja 1958 wird Aitmatows Werk auch in Westeuropa geschätzt. Ab den 1990er Jahren wurden seine Neuerscheinungen fast zeitgleich mit dem russischen Original ins Deutsche übersetzt, was seine Popularität in Deutschland bezeugt.
 
Mit Luxemburg jedoch verbindet Aitmatow eine ganz besondere Beziehung: 1990 ernannte ihn Michail Gorbatschow zum Botschafter der Sowjetunion in Luxemburg. 1992-1994 übernahm er dieselbe Funktion für die Russische Föderation.2 Der Schriftsteller wohnte vier Jahre in der Stadt Luxemburg3 und hatte während dieser Zeit auch Kontakt mit hiesigen Kulturschaffenden, wie etwa eine Einladung an Anise Koltz zeigt.4 Von 1994 bis zu seinem Tod 2008 war Aitmatow Botschafter der Kirgisischen Republik für die Benelux-Staaten. Obwohl er in dieser Funktion in Brüssel residierte, interessierte er sich weiterhin für das literarische Leben in Luxemburg. Er nahm an den Mondorfer Dichtertagen im April 1995 teil, und als Anise Koltz 1996 im Luxemburger Literaturarchiv in Mersch der Batty-Weber-Preis verliehen wurde, befand sich Aitmatow unter den Gästen. Überhaupt war dem Diplomaten der landesübergreifende Gedankenaustausch zwischen Intellektuellen ein Anliegen, das er ab 1986 durch die Gründung des Issyk-Kul-Forums, eines internationalen politisch-kulturellen Think Tanks, vorantrieb.
 
Rosemarie Kieffer lernte Aitmatow 1990 zu Beginn seines Aufenthalts in Luxemburg kennen. Da Kieffer fließend Russisch sprach, Aitmatow nach eigenen Aussagen jedoch keine westeuropäische Sprache wirklich beherrschte, erhielt er durch sie Zugang zur Luxemburger Kulturszene. Im April 1994 entstand ein privates Interview mit dem kirgisischen Schriftsteller, in dem er über seinen Aufenthalt in Luxemburg, dieser ruhigen Stadt, "classiquement européenne", in unmittelbarer Nähe zu seinen Verlegern in Deutschland und Frankreich, spricht.5 Bei dieser Gelegenheit entstand vermutlich auch die vorliegende Widmung.
 
Rosemarie Kieffer betätigte sich als eifrige Kulturvermittlerin, vor allem zwischen Luxemburg und den Ländern Osteuropas. Seit den 1960er Jahren veröffentlichte sie Artikel über zeitgenössische europäische Literatur, mit Schwerpunkt auf der französischsprachigen Produktion Luxemburger Schriftstellerinnen einerseits und der sowjetischen Literatur andererseits. Tschingis Aitmatows Werk nimmt dabei eine herausragende Stellung ein: zwischen 1971 und 1994 publizierte sie hierzu mehr als ein Dutzend Artikel. In ihrer Bibliothek befanden sich zwei Bücher Aitmatows mit persönlichen Widmungen: das hier vorgestellte Die weisse Wolke des Tschinggis Chan und Souris bleue, donne-moi de l'eau.
 
In Die weisse Wolke des Tschinggis Chan gibt es eine Rahmenerzählung, welche die Untersuchungshaft des kirgisischen Lehrers Abutalip schildert. Man wirft ihm vor, eine alte Legende aufgeschrieben zu haben und dadurch die allgemeine Parteitreue zu untergraben. Im Lauf der Geschichte wird klar, dass er das Opfer eines bürokratischen Emporkömmlings wurde, der sich von der Verurteilung des angeblichen Regierungsfeindes eine Beförderung verspricht. Verzweifelt versucht Abutalip ein letztes Mal, seine Familie aus dem vorbeifahrenden Zug zu erblicken, dann begeht er, um nicht weitere Unschuldige belasten zu müssen, Selbstmord. Die Geschichte trägt eindeutige biographische Züge, die Rosemarie Kieffer in einer Rezension hervorhebt: Während des Großen Terrors 1937 verschwand Aitmatows Vater, der Sohn war da gerade sechs Jahre alt, unter mysteriösen Umständen; die Familie erfuhr nie, wie und wann er starb.6
 
Die von Abutalip aufgeschriebene Legende bildet die Binnenerzählung im Buch. Die Legende berichtet, wie Dschingis Khan auf seinem Feldzug nach Westen von einer Glück verheißenden Wolke begleitet wird. Als der Eroberer jedoch einen seiner Offiziere und eine Bannerstickerin hinrichten lässt, weil diese trotz eines allgemeinen Verbotes während des Feldzugs ein Kind zur Welt bringt, entzieht ihm der Himmel seine Gunst. Die Wolke schwebt künftig über dem Kind der beiden, das von einer Dienerin gerettet wurde.
 
Kieffer bezeichnet die Geschichte als "une oeuvre très belle, qui proteste contre l'ambition du tyran et plaide la cause de la vie et de l'amour."7 Die Liebe, die zwei Menschen trotz gesellschaftlicher oder politischer Widerstände füreinander empfinden und die Verbundenheit mit der selbst gegründeten Familie sind zentrale Themen in Aitmatows Werk. Die Denkweise der Figuren erscheint dem westeuropäischen Leser dabei so vertraut, dass der kirgisische Handlungsraum zur allgemeingültigen klassischen Bühne wird. Die Ideen, die Aitmatow vertritt – Kieffer schreibt: " [il] croit à la vocation civilisatrice de l'homme"8 – liegen der Literaturwissenschaftlerin selbst am Herzen. Dies wird in Kieffers eigenem schriftstellerischen Werk deutlich. In ihren Kurzprosabänden verarbeitet sie Gedanken, Begegnungen und Eindrücke von Reisen oder aus dem Alltag. Ihre Erzählungen spielen oft in Osteuropa, doch geht es der Autorin nie um eine Ideologie, sondern es steht stets der Mensch mit seinen Wünschen und Hoffnungen im Mittelpunkt. Sie schafft glaubhafte Figuren, "des personnages qui obéissent à l'appel de leur conscience, de la voix du Bien, de la tolérance, de la solidarité entre gens et entre peuples."9 Als Beispiel sei hier das unveröffentlichte handschriftliche Manuskript Hôtel Octobre. Tétralogie soviétique, das auf August 1965 datiert ist, genannt.10 Auch die Verbundenheit zu Natur und Tieren ist Aitmatow und Kieffer gemein.11
 
Rosemarie Kieffer begeisterte sich bereits sehr früh für die russische Kultur. In einem Aufsatz mit dem Titel Example is better than precept, verfasst 1948 auf 'Troisième', gibt die Schülerin folgendes Beispiel:
 
"Many so-called communists [...] said that nobody had the right to live in luxury and all the rich people had to leave their property and follow the new precepts. [...] If all of them had done the things they had talked so much about, they would have been an example for all and gained many partisans for their cause."12
 
Dieses Beispiel zeigt, dass sich die damals Fünfzehnjährige bereits intensiv mit ideologischen und sozialpolitischen Fragen auseinandersetzte. Im gleichen Hefter, allerdings ohne Datumsangabe, notiert Kieffer den Aufbau eines Aufsatzes zum Thema Que signifie la musique pour les Russes? mit Abschnitten zu Tolstoi, Gorki and Schostakowitsch. Später absolvierte sie, parallel zu ihrem Französisch-, Latein- und Philosophiestudium an der Sorbonne, Slawistikkurse an der Pariser École des langues orientales. 13 Ein Schreibblock mit französischen, italienischen und lateinischen Notizen, vermutlich aus ihrer Studienzeit, enthält auch ein paar einfache Sätze in russischer Schreibschrift.
 
Rosemarie Kieffer bereiste viele Gebiete der damaligen Sowjetunion, wie Reiseführer, Landkarten und andere Dokumente aus ihrem Nachlass belegen. Der "brillante polyglotte"14 war es zudem ein Anliegen, möglichst viele Sprachen dieser Länder wenigstens in Grundzügen zu erlernen. Einer ihrer ehemaligen Schülerinnen zufolge beschäftigte sich Kieffer jedes Jahr mit einer weiteren Sprache.15 In ihrem Nachlass liegen daher auch viele Sprachlehrgänge und Widmungsbücher in den unterschiedlichsten Sprachen. Dabei stechen die in der für Westeuropäer exotisch anmutenden georgischen Schrift besonders hervor. Mit dem Verfasser dieser Widmungen, dem Georgier Sergo Tournava, verband Rosemarie Kieffer eine jahrelange Freundschaft.
 
Kulturaustausch und -vermittlung fand für die Literaturwissenschaftlerin nämlich in erster Linie auf persönlicher Ebene statt. So bot sie während ihrer Lehrtätigkeit am Lycée Robert-Schuman über Jahre hinweg Russischkurse für interessierte Schüler an und engagierte sich in vielen Organisationen, etwa der Fédération luxembourgeoise des femmes universitaires und den Amis de la Maison de Victor Hugo in Vianden. Ihr Hauptbetätigungsfeld blieb aber der Kulturaustausch mit der Sowjetunion. 1974 wurde sie Mitgründerin des Centre Culturel A.S. Pouchkine in Luxemburg und dessen erste Präsidentin. Eine der ersten Veranstaltungen, die sie im Centre Pouchkine organisierte, war ein Abend über Tschingis Aitmatow.16
 
Doch der Kulturtransfer sollte in beide Richtungen fließen und so setzte sie sich dafür ein, Luxemburger Autoren in der Sowjetunion bekannt zu machen. Besonders interessant ist in diesem Kontext ein Gedicht der Luxemburgerin Henriette Theisen über Tschingis Aitmatow, das 1991, auf Kirgisisch übersetzt, in einer kirgisischen Zeitung erschien. Der Vermittler war, wie Kieffer in einem Brief mitteilt, Leonid Stroilov. Er scheint sich näher mit der Luxemburger Literatur beschäftigt zu haben, jedenfalls publizierte er ein Jahr später einen längeren kirgisischen Artikel über Rosemarie Kieffer, in dem er sie als "Luxemburger Freundin der kirgisischen Literatur" bezeichnet.17
 
Ob und wie gut Rosemarie Kieffer Kirgisisch beherrschte, konnte ich nicht feststellen. In ihrem Nachlass befindet sich jedenfalls kein Lehrbuch für diese oder eine andere Turksprache. Fest steht, dass sie sich Zeit ihres Lebens mit dem Werk des bedeutendsten kirgisischen Schriftstellers, Tschingis Aitmatow, beschäftigt hat. Die hier vorgestellte Widmung erhielt sie kaum drei Monate vor ihrem Tod am 10.07.1994.
 

 
Bibliographie:
 
1 Rosemarie Kieffer: Voyage littéraire à travers l'Union soviétique. In: Nouvelle Europe 4 (1975) 11, S. 39-42, hier S. 39.
2 Visitenkarte Tschingis Aitmatow. 1993. CNL Autographensammlung, AU-26.
3 Rosemarie Kieffer: Rencontre avec Tchinguiz Aitmatov. In: Ons Stad 46 (1994), S. 24-26, hier S. 24.
4 Maschinenschriftlicher Brief von Tschingis Aitmatow an Anise Koltz, 17.08.1994. CNL Fonds Anise Koltz, L-0042;II.2.A6-1.
5 Alle Informationen in diesem Abschnitt aus: Kieffer: Rencontre avec Tchinguiz Aitmatov.
6 Rosemarie Kieffer: Tchinghiz Aïtmatov ou la plainte de l'oiseau migrateur. In: La Revue générale 10 (1991), S. 23-30, hier S. 23.
7 Idem, S. 28.
8 Rosemarie Kieffer: L'humanisme de Tchinghiz Aïtmatov. In: Revue luxembourgeoise de littérature générale et comparée, 1990, S. 36-44, hier S. 44.
9 Einen Frank Wilhelm: Bio-bibliographie de Rosemarie Kieffer (1932-1994). In: Revue luxembourgeoise de littérature générale et comparée, 1994, S. 17-100, hier S. 34.
10 Grünbraunes Heft mit handschriftlichen Aufzeichnungen. CNL Fonds Rosemarie Kieffer, L-57.
11 "[F]ervente protectrice des animaux, aimant viscéralement la nature". Danièle Medernach-Merens: A Rosemarie Kieffer. Elle fut mon professeur, je devins sa collègue, elle était mon amie. In: Revue luxembourgeoise de littérature générale et comparée, 1994, S. 13-15, hier S. 13.
12 Hefter mit der Aufschrift 'Semer pour récolter'. CNL Fonds R. Kieffer, L-57.
13 Wilhelm: Bio-bibliographie de Rosemarie Kieffer, S. 21.
14 Medernach-Merens: A Rosemarie Kieffer, S. 13.
15 Hefter Yvonne Frisch: Rosemarie Kieffer. In: Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek 48 (1994) 139, S. 11.
16 Kieffer: L'humanisme de Tchinghiz Aïtmatov, S. 43.
17 Leonid Stroilov: Кыргыз адабиятынын люксембургдук досу. In: Ala-Too (4/5) 1992, S. 156-160. CNL Fonds R. Kieffer, L-57.
 

 

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