Im blinden Glauben, dass der erste Schritt je schon der zweite ist. Unveröffentlichte, frühe Schreibversuche des Schriftstellers Fernand Karier.
Vor fünfzig Jahren, am 27.10.1967, kam Fernand Karier bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Die Nachrufe, die in den folgenden Wochen in der Luxemburger Presse erschienen, machten deutlich, dass die Luxemburger Literaturszene mit Karier einen vielversprechenden jungen Schriftsteller verlor. In einem Rückblick im Lëtzebuerger Land beschreibt Roger Manderscheid, wie die "hinterbliebenen literarischen Freunde [...] stumm und bestürzt" seinen Tod aufnahmen, der eine "empfindliche und kaum wieder zu füllende Lücke" hinterließ. Gerade einmal zwei Kurzgeschichten hatte Karier in der Schriftreihe impuls veröffentlicht. Diese Reihe war erst kurz vorher von Cornel Meder gegründet worden, um neuen Autoren eine Plattform zu bieten. Neben Karier gehörten unter anderem Roger Manderscheid (1933-2010), Jean-Paul Jacobs (1941-2016) und Roger Schiltz (1930-2005) zur impuls-Gruppe. 1 Manderscheid widmete dem Freund sein Hörspiel Radiografie, das drei Jahre später in dem Sammelband Statisten erschien. Auch Cornel Meder betonte in einem Rückblick, wie wichtig Karier für die neue Schriftstellergeneration gewesen war. Ihn habe eine "knabenhafte Mutlosigkeit" überkommen, nun da der stets willkommene Kritiker und "Berater" fort sei. 2
Wie Cornel Meder war Karier Lehrer am Escher Gymnasium. Bereits früh interessierte er sich für Literatur und Theater. Unter seinem Lehrer Marcel Reuland sammelte Karier erste Erfahrungen am Schultheater. Nach dem Abitur 1953 studierte er zunächst ein Jahr Philosophie an den Cours supérieurs in Luxemburg, unter anderem bei Jules Prussen. Danach belegte er zwei Jahre Kurse in französischer, englischer und deutscher Literatur sowie in Latein, Geschichte und Philosophie an der Sorbonne, bevor er ab 1956 Philosophie, deutsche Literatur und Latein in München studierte. 3 Matthias Deltgen, Sohn des Luxemburger Schauspielers René Deltgen, und René Reimen, ein Schulfreund der immer wieder in Kariers Manuskripten auftaucht, waren Studienkollegen Kariers.
Zwischen seinen Studienaufenthalten in Paris und München sammelte Karier im Januar 1956 erste Berufserfahrungen als Ersatzlehrer. In Aufzeichnungen aus dieser Zeit beschreibt er seine Eindrücke von den Dreizehnjährigen, die er unterichten soll, ihre "Mannsgesichter in Andeutung": "Anpassung oder Ablehnung hinsichtlich der Compartimente: Gerichtetsein auf Vorteile. Compartimentierung von seiten des Lehrers. Die Schlauen versuchen, die Compartimente auszufüllen, unbewusst. Sind es noch Kinder?" Er macht sich also durchaus Gedanken über seine Schüler und nimmt seine Aufgabe als Pädagoge sehr ernst. 4
Karier blieb zwei Semester an der Universität in München, dann kehrte er für das Wintersemester 1957/58 nach Paris zurück. Im September 1958 bestand er das Luxemburger Abschlussexamen der collation des grades, das ihm den Titel eines "docteur en philosophie et lettres" verlieh. 5 Ab 1959 unterrichtete er Deutsch am Escher Lycée de garçons, 1962 wurde er verbeamtet und fest eingestellt. Im gleichen Jahr fand in Mondorf das erste internationale Dichtertreffen statt. Ob Karier, wie seine Schriftstellerkollegen Josy Braun, Lex Jacoby und Roger Manderscheid, an dieser Veranstaltung teilnahm, konnte nicht festgestellt werden. Alain Weins konstatiert, dass die Luxemburger Autoren "größtenteils im Hintergrund"6 blieben. Sicher ist jedoch, dass Karier bei den zweiten Mondorfer Dichtertagen 1964 eine seiner Erzählungen vorlas. 7 Darüber hinaus übernahm er Übersetzungsarbeiten für ausländische Autoren ins Deutsche. 8 In der Kulturbeilage Le Phare erschienen zu dieser Zeit auch vereinzelte Literaturkritiken von Fernand Karier. Claude Conter bemerkte zum zehnjährigen Todestag Kariers, dieser habe an sich selbst genau so hohe Maßstäbe gesetzt wie an international anerkannte Autoren und Luxemburger Kollegen. Anstatt sich um möglichst viele Publikationen zu bemühen, zog Karier es deshalb vor, seine Gedanken und Texte reifen zu lassen. "On pouvait, vers la quarantaine, attendre des textes mûris, achevés, définitifs." 9 Leider blieb ihm hierzu nicht mehr die Zeit.
Wenige, doch beachtenswerte, Veröffentlichungen
So blieben die beiden Erzählungen Juden und Anfang, die 1965 und 1966 in den ersten beiden impuls Bänden herauskamen, Fernand Kariers einzige literarische Publikationen. Die Geschichten beschreiben die Stimmung in Luxemburg während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sicht eines Jugendlichen namens Aereto. Wie in meinem kürzlich erschienenen Artikel in der Warte erläutert, geht es dem Autor hierbei nicht darum, autobiographische Details wiederzugeben, sondern menschliche Verhaltensweisen aufzuzeigen und Beweggründe für ihr Handeln, als neutraler Beobachter, zu ergründen. Karier fällt weder ein Werturteil über den opportunistischen Aufhetzer, noch über Aeretos Vater, der es nicht wagt, sich gegen diesen zur Wehr zu setzen; weder über die aufgebrachten Luxemburger, die Frauen die Haare scheren, noch über die Mutter eines Freundes, die Kontakt zu amerikanischen Soldaten sucht. Claude Conter schreibt in einem Nachruf auf Karier: "Il n'a jamais cru nécessaire de commenter la politique pratiquée au jour le jour"10, und genau dies ist auch in seinen Erzählungen der Fall. Er beobachtet, "wach und hellhörig", wie ein anderer Kritiker schreibt, die Menschen um ihn herum in einer turbulenten Zeit, die "ihm die Welt, die Welt des Menschen, fragwürdig werden lässt." 11
Diese Technik der neutralen Beschreibung findet sich auch in einem weiteren Prosatext von Karier mit dem Titel Oft sitze ich, den er am 17.05.1967 in einer Lesung in Differdingen vortrug. Der Erzähler sitzt am Fenster und beobachtet das Leben auf der Straße und im gegenüberliegenden Haus und Café. Er beschreibt die alltäglichen Handgriffe einer Frau in ihrer Küche. Nichts Aufregendes passiert, doch in seiner Fantasie malt sich der stille Beobachter dramatische Szenen aus, die Frau stürzt im Treppenhaus, Tragik und Horror zerstören jäh und unerwartet die trügerische Ruhe. Der Text erschien 1968 posthum im 4. Band der Literaturzeitschrift Doppelpunkt und zeigt, dass sich der Schriftsteller nach langen Jahren der Reifung bereit sah, mit seinen Schriften an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch eine Autorenresidenz, die er in Norditalien annehmen wollte12, zeigen, wie literarisch produktiv er sich kurz vor dem Autounfall fühlte.
Nach Kariers Tod geriet sein Werk beim breiten Publikum für einige Jahrzehnte in Vergessenheit, nicht jedoch bei seinen Schriftstellerkollegen. Als Rosemarie Kieffer eine chinesischsprachige Anthologie Luxemburger Schriftsteller zusammenstellte, berücksichtigte sie auch Juden und Oft sitze ich von Fernand Karier. Die Anthologie erschien 1994 in Nanjing. 2013 trug der Schauspieler Steve Karier Auszüge aus dem Werk seines Vaters während der "Luxemburger Tage" in Sibiu, Rumänien vor, und machte damit die Texte einem internationalen Publikum zugänglich. Bereits ein paar Jahre vorher, 2008, erschien ein Dossier mit Texten von und über Fernand Karier in der Galerie. Hier sticht besonders der Beitrag des französischen Sprachwissenschaftlers René Reimen hervor. In seinem Beitrag beschreibt er nicht nur Kariers literarische Vorlieben und Vorstellungen, sondern zitiert auch eine ganze Reihe bis dato unveröffentlichte Sentenzen und Aphorismen von Karier. 13 Diese kurzen Auszüge wecken Interesse auf den Rest von Kariers unveröffentlichten Werken. Bereits Ende der 1960er wurden erste Rufe nach einer Publikation seines Nachlasses laut. So schrieb Claude Conter 1968 in der Voix: "[U]n jour, peut-être, un ami reconnaissant recueillera en un mince volume pages publiées et inédites"14 und Guy Wagner bemerkte ein Jahrzehnt später: "Er verdiente auch, daß man seine Texte gesammelt, seine unveröffentlichten Manuskripte kritisch kommentiert herausgeben würde." 15
Doch wie groß ist der Nachlass des jungen Schriftstellers tatsächlich? Zwei Schenkungen der Familie, aus den 1980er Jahren und von 2017, vereinen seit kurzem Kariers unveröffentlichte Schriften und Lebensdokumente im Luxemburger Literaturarchiv unter der Signatur L-9 Fonds Fernand Karier, und ermöglichen nun erstmals eine Bestandsaufnahme.
Fernand Kariers Nachlass
Bis vor kurzem bestand der Nachlass im CNL lediglich aus einer Archivkiste. In zehn Arbeitsmappen lagen, in Kariers oftmals schwer lesbarer Schrift, Notizen aus den Jahren 1954 bis 1960. Der größte Teil ist auf 1956 und 1957 datiert und fällt demnach mit dem Beginn seiner Studienzeit in München (ab Oktober 1956) zusammen. Glücklicherweise hat Karier einen Großteil der Papiere datiert und numeriert, so dass die sehr heterogenen Aufzeichnungen, wenn auch nicht inhaltlich, so doch chronologisch geordnet sind. Dabei fällt auf, dass Blätter zu fehlen scheinen, so etwa in der Mappe von Januar bis Oktober 1956. Ob diese Papiere über die Jahre verloren gingen oder ob Karier sie vielmehr bewusst aussortierte, wenn er die Notizen nicht mehr benötigte oder seine literarischen Kreationen verwarf, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Auch sind viele Seitenzahlen, vor allem innerhalb der literarischen Werke, doppelt oder sogar dreifach vorhanden. Dabei handelt es sich teilweise um überarbeitete Versionen, oft aber auch um völlig andere Texte, so dass sich die Frage stellt, ob die Blätter aus Versehen in eine falsche Mappe geraten sind. Auch dies ließ sich meist nicht mehr zufriedenstellend klären.
Ein großer Teil der Notizen scheinen Mitschriften von Vorlesungen oder Gedanken zu seinen Studien zu sein. So finden sich im Juli 1956 Notizen über Simone Weil und Thomas Manns Zauberberg, zwei Hefte im November 1956 halten Ideen über das Wesen der Literatur bzw. über seine Philosophiekurse fest. Oft ist auch nicht klar, ob es sich um eigenständige literarische Schriften oder Zitate von anderen Autoren handelt. So steht zwischen einer Reihe von Aphorismen, die möglicherweise von Karier selbst stammen, ein Vers aus dem Gedicht Die reinen Frauen von Theodor Storm (Jan.-Juli 1957).
Im September 2017 erhielt das CNL eine weitere, etwa 4 Archivkästen umfassende Schenkung der Familie Karier. Diese besteht zum größten Teil aus Notizen zu Philosophiekursen und Vorbereitungen vom Deutschlehrer Karier auf seine Kurse am Gymnasium, teilweise sogar mit beiliegenden Prüfungen von Schülern. Auch die Forschungen zu seiner Abschlussdissertation Das Hörspiel als neue Kunstform nehmen mehrere Mappen ein. Karier sammelte Zeitungsausschnitte aus den 50er und 60er Jahren, u.a. Artikel von Pierre Grégoire und eine Kollektion zu Boris Pasternak, und Auszüge aus Theaterstücken, etwa von Ibsen und Büchner. Daneben gibt es auch eine ganze Reihe von persönlichen Lebensdokumenten: diese reichen von der Kindergartenmappe mit Flechtarbeiten aus dem Jahr 1938 über Hefte aus Kariers Gymnasial- und Hochschulzeit bis zu Schulzeugnissen, Zertifikaten, Gutachten, einem Studienbuch und diversen Ausweisen. Ein Bündel Briefe, die den Schriftverkehr zwischen dem Münchener Studenten Karier und der Familie zu Hause und Freunden wie René Reimen und Matthias Deltgen dokumentieren, bilden den Abschluss des Nachlasses. Wenn auch all diese Dokumente äußerst interessant und aufschlussreich sind, so fällt doch auf, dass Fernand Karier nur wenige literarische Produktionen hinterließ.
Erste literarische Versuche und Einflüsse
Eine beachtenswerte Ausnahme ist ein circa 70seitiges, handschriftliches Romanfragment mit vielen Ausstreichungen und Verbesserungen, das wohl 1956 entstand. An das Fragment schließen sich die Zusammenfassung einer, wie es scheint, völlig anderen Geschichte mit dem Titel ... und keiner hat es gesehen und eine Personenaufzählung für ein nicht überliefertes Theaterstück an.
Die schriftlichen Hinterlassenschaften Kariers zeigen, dass sich der Student während seiner Zeit in Paris und München intensiv mit Schreibtheorie beschäftigte und an seinem Stil feilte. So verfasste er 1954 einen sechsseitigen Text der an die Methode der écriture automatique erinnert. Die philosophisch-nachdenklichen Ideen reihen sich in einem beinahe inkantationsartig anmutenden Stil aneinander:
"im blinden Glauben, dass der erste Schritt je schon der zweite ist, er wusste es und wusste auch, [...]
dass niemand Erfahrungen macht, indem er das Machen erfährt,
dass wer eine Sache liebt, das Lieben nicht zur Sache machen darf,
dass aber vor dem Tod alles gleicherweise Sache ist,
dass alles dem vonstatten geht, für den nichts Statt hat,
dass wer sich alles schickt, in alles schickt, ein Schicksal hat"
Dieser kurze Auszug zeigt bereits Kariers Vorliebe für Wortklang und Rhythmus, den seine Schriftstellerkollegen später an ihm so schätzten. Alphonse Jacoby etwa schrieb 1968: "Fern retrouvait la diversité du monde dans un cappucino qu'il avait commandé autant pour son goût et son aspect que pour la sonorité et le pouvoir évocateur de l'appellation." 16
Im Gegensatz zu seinen veröffentlichten Werken sind diese frühen erhaltenen Schriften eher philosophisch-literaturtheoretischer als fiktional-literarischer Art. So vermerkt Karier 1954 nachdenklich: "Immer ist die Wahrheit die von einem schöpferischen Menschen entdeckt wird, eine persönliche Wahrheit." 17 und ein Jahr später: "Das Geheimnis umhüllt uns, wir tragen es und können es nicht abtun [...] Der Künstler aber geht weiter und bezieht das Geheimnis mit ein in sein Schaffen." (Nachlass, Mappe 1955, S. 1)
Aus dieser Zeit stammen vor allem Sammlungen kurzer Gedanken und Aphorismen, bei denen auch immer wieder, durch Kürzel, Gesprächspartner vermerkt werden, mit denen Karier tiefgründige Gespräche führte und deren anregende Bemerkungen er auf diese Weise festhielt (z.B. in Nachlass, Mappe 1955). Als Gesprächspartner tauchen vor allem R. und M.R. auf. Bei M.R. könnte es sich eventuell um Roger Manderscheid handeln, R. bezeichnet dagegen zweifellos den Schulfreund René Reimen.
Die Aufzeichnungen zeigen, wie sehr diese Gespräche Kariers Denken und Schreiben prägten. Darüber hinaus hatten sicherlich auch die Seminare an der Universität einen Einfluss. Karier belegte Kurse mit Titeln wie "Logik und Erkenntnistheorie", "Die psychische Grundverfassung des heutigen Menschen" und "Die Lyrik Gottfried Benns".18 So bezieht sich Karier 1955 in seinen Ausführungen über das andersartige Schaffen eines Schriftstellers und eines Wissenschaftlers unter anderem auf Ideen des deutschen Schriftstellers Wolfgang Borchert. 19 Auch Georg Kolbes Werk scheint einen Einfluss auf Karier gehabt zu haben. 20
Einsame Tage in München
Im September 1956 finden sich dann die ersten Überlegungen zu einem Roman, den er schreiben will, in den Aufzeichnungen. Am 9. September ermahnt sich Karier selbst: "Aber den Roman nicht Wucherungen aussenden lassen, sondern ihn auf kleinstem Raum anlegen: Robert, Julian, Helma, Metilde, und Striptease (Stripties)." Eine Woche später, am 16.09., folgt eine Beschreibung der Romanfigur "Robert" und, am 23.09., von Julians Zimmer.
Karier ist zu dieser Zeit gerade in München angekommen. Der neue Lebensabschnitt scheint ihn in seiner Resolution zu bestärken, den geplanten Roman nun ernsthaft anzugehen. Am 2. Oktober notiert er: "Den Roman als Terminarbeit ansehen." (Mappe Januar ̵ Oktober 1956). Auch in einem Brief, vermutlich an René Reimen, der als Entwurf in der gleichen Mappe liegt, betont er:
"Im September habe ich viel geschrieben, selten mit maximaler Konzentration, aber zu starke Konzentration unterbindet verhindert das Strömen der Einfälle, und es handelte – wohl weil ich nichts anderes fertig brachte – sich ja zumeist um Entwürfe, Notizen, im Hinblick auf den Roman, den ich (noch immer) schreiben will." 21
Im November beschreibt Karier auf vier Schreibmaschinenseiten seine Umgebung und notiert Gedanken über die Einsamkeit. Es ist nicht klar, wie weit diese Überlegungen auf das tatsächliche innere Erleben des Autors schließen lassen, doch ist dies sehr wahrscheinlich. Die Suche nach einem Studentenzimmer hatte sich zunächst als schwierig erwiesen (Brief an den Vater, 18.10.1956), der junge Mann kennt bisher niemanden in der Stadt und auch als er schließlich eine, wie es scheint recht einsame, Unterkunft findet, weiß Karier nichts Spannenderes aus München zu berichten, als dass er auf das Vorlesungsverzeichnis wartet, um seine Kurse auswählen zu können (Brief an seine Schwester, 25.10.1956).
Am 1.11.1956 verfasst er eine Anfrage, um in den USA weiter zu studieren. Wie wenig er sich bisher in München wohlfühlt lässt eine Bemerkung erahnen, die er an den Rand des Briefentwurfes notiert. Bevor er in die Staaten geht, möchte er "hier etwas leisten, nicht Fluchtreflex. Etwas leisten: an der Universität, als Dichter, in Luxemburg (Cahiers du Sud)".
Am nächsten Tag erwirft er einen weiteren Brief, diesmal an die Mutter seines Schwagers, Frau Mousset, in dem er sein einsames Studentenleben beschreibt: "Ich lebe in Unwirklichkeit […] zwischen der materiellen Geborgenheit des Zimmers […] und der Geborgenheit des Geistes […] in den Vorlesungssälen." Karier grübelt zunehmend über den Sinn des Lebens. Gedanken an Selbstmord, die in diesen Monaten immer wieder auftauchen, verwirft er jedoch mit dialektischer Schärfe: "Selbstmord ist Beweis der Freiheit, aber als Protest gegen das Sinnlose sinnlos, denn es gibt ihm einen Sinn." (Aphorismensammlung, Mappe Januar ̵ Oktober 1956, Nr 61). Er ist entschlossen, die Herausforderungen dieses neuen Lebensabschnittes anzunehmen und zu meistern: "Die Krise in dem Gefühl, dass ich seit Jahren an mir vorbeigelebt habe, nicht durch freie, selbstlose Schlußstrich-Entscheidungen herbeizwingen: so wird gerade nichts geändert, weil die Notwendigkeit des Wollens die Sicherheit des Erreichthabens vorgibt" (Mappe Januar ̵ Juli 1957, 29.6.1957). Etwas später notiert er das Motto eines Werbespruches von Gasolin, "Nimm dir Zeit und nicht das Leben", und fügt als Fazit hinzu: "Motiv des Selbstmords, endgültig eliminiert" (Mappe August 1957, S. 4).
Eine Hauptfigur namens Balduin
Dies waren nun die äußeren Umstände und die seelische Verfassung, in der sich der Student befand, als er entschied, sein erstes großes Werk zu schaffen. Doch worum geht es nun in diesem Romanprojekt? Im Nachlass liegen zwei Mappen mit Dokumenten von Oktober bis Dezember 1956, die hierüber Aufschluss geben könnten. Als erstes ist da die oben beschriebene Mappe mit einem 70seitigen, sehr fragmentarischen Manuskript. Die schwer lesbare Geschichte scheint nicht richtig in Gang zu kommen. Der Jungautor beginnt immer wieder aufs Neue mit seinem Text: "Den Postoffizial Ignaz Fibelkorn traf sozusagen der Schlag ..." Ein prägnanter Satz, der neugierig macht auf die Geschichte, doch Karier feilt immer weiter an diesem ersten Absatz, streicht durch, ersetzt und schreibt geringfügig um. Doch handelt es sich bei diesen Seiten überhaupt um den Roman, an dem Karier schreibt? Eine zweite, auf Dezember 1956 datierte Mappe, lässt Zweifel daran aufkommen. Auf 72 vollgeschriebenen Seiten, gefolgt von 18 schreibmaschinenschriftlichen Blättern, setzt sich Karier mit dem Roman auseinander, den er schreiben möchte, er notiert schreibtheoretische und philosophische Überlegungen und sinniert über Politik, Gefühle, Beweggründe für menschliches Handeln und nicht zuletzt über die Liebe.
Der Protagonist des Romans heißt Balduin. Lakonisch stellt Karier fest: "Balduin geboren 1934: also da war schon alles im Eimer" (Mappe Dezember 1956, S. 4). Erstlingswerke sind oft autobiographisch geprägt, und so stellt sich die Frage, ob "Balduin" einer realen Figur nachempfunden ist, oder ob er vielleicht den prototypischen Luxemburger darstellt? Auffallend ist natürlich, dass Balduin im gleichen Jahr geboren ist wie Karier selbst. Auf den nächsten Seiten taucht der Name immer wieder auf, Karier feilt seine Hauptfigur charakterlich und biographisch bis ins kleinste Detail aus. Etwa wenn er notiert dass Balduin "nicht weiß was es heißt, einem Mädchen im Nackenhaar zu spielen" (S. 7a), er beschreibt Balduins große Liebe, die als Gouvernante in Paris arbeitet, "ihre großen Augen, ihr rötliches Haar, ihr Busen" (S. R7) und macht sich Notizen zu diversen Themengebieten, wie "Balduins Notizen über seine Kindheit" und "Balduin und die Schauspieler"(S. R21)
Karier betont, er lege Wert auf eine authentische, nachvollziehbare Handlung und eine leichte Ausdrucksweise, die seine persönlichen Aufzeichnungen allerdings des öfteren vermissen lassen: "nicht ein von gelegentlicher Handlung unterbrochenes Philosophieren, sondern - wie R. Impuls im Denken [....] und doch nicht wie R. - das Denken ist zugleich Impuls - Vergesslichkeit - die Handlung hat die Leichtigkeit - Selbstvergessenheit wie das Leben, nicht dramatischer Aufbau" (S. R18).
Künstlerischer Austausch mit René Reimen
Und immer wieder taucht in seinen Überlegungen der Freund R auf. An ihm misst sich Karier, mit ihm diskutiert er, und das seit den ersten erhaltenen Privataufzeichnungen von 1954. Der erste Satz in dieser Mappe lautet in der Tat: "1954, als Ergebnis erster Gespräche mit R." Im April 1956 notiert er: "R wütend, weil mir anscheinend vieles in den Schoß fällt, indes er sich abmühen muss." Wie weiter oben erwähnt, handelt es sich dabei zweifellos um den Schulfreund Jean-René Reimen, der sich später auf dem Gebiet der französischen Linguistik hervortat. 22 Sie waren gemeinsam auf dem Lycée de garçons in Esch und an den Cours supérieurs, beide wohnten in der Fondation Biermans-Lapôtre in Paris und Reimen verbrachte einige Monate bei Karier, als dieser in München studierte. In seinem in der Galerie 2008 veröffentlichten Artikel über Karier wird deutlich, wie vertraut er mit dem unveröffentlichten Werk des Freundes und seinen literaturtheoretischen Gedanken war. 23
Reimen arbeitete zu dieser Zeit ebenfalls an einem Roman, den er jedoch nie vollendete (Mappe Nov. 1956, S. 1), und beide pflegten einen intensiven künstlerischen Austausch. Im Oktober 1956 verfasste Karier vier Briefentwürfe an einen Freund, mit ziemlicher Sicherheit René Reimen, in denen er betonte, er habe, im Gegensatz zu seinem Freund, the terrible desire to establish contact; ein Zitat, das übrigens von der neuseeländischen Kurzgeschichten-Autorin Katherine Mansfield stammt, deren Kurzgeschichten Karier zu beeindrucken schienen. Trotz Meinungsverschiedenheiten freute sich Karier darauf, Reimen während der Weihnachtsferien in Luxemburg zu treffen und mit ihm über beide Romanprojekte zu reden (Mappe Nov. 1956, S. 2/4).
Diese Gespräche verliefen nicht immer harmonisch, da beide Jungautoren auf ihren Positionen verharrten. Er stritt mit Reimen über dessen Manuskript und warf ihm Sturheit vor: "So wie Du nein sagst, nicht beweglich" (Mappe Jan - Juli 1957). Im Laufe der Zeit lebten sich die Freunde auseinander. Karier beschreibt die Empanzipation von der Anerkennung des anderen folgendermaßen: "Die innere Loslösung von R. als blindem Rückhalt. Er ist ein Mensch unter anderen, aber wertvoller." (Sept. 1958)
Nichtsdestotrotz war Reimen während der Reifungsphase des Romanentwurfs eine wichtige Person in Kariers Leben. Es ist auffällig, wie oft Entwürfe zu Balduins Persönlichkeit Seite an Seite stehen mit Bemerkungen über René Reimen. So folgt auf eine längere Passage über Balduins Gefühle gegenüber Paris, "Paris für Balduin, ein Labyrinth [...] teatro mundi", ein Absatz über Reimens literarische Vorstellungen: "Bei R. nicht die Intention zur Schönheit, sondern alles zu sagen, somit ist das Buch schon fertig ehe es begonnen ist." (Mappe Dez. 1956, schreibmasch., S. 1)
Beide Figuren, die reale und die erdachte, kreisen unablässig in Kariers Vorstellung umeinander. So liegt die Vermutung nahe, dass Balduin vielleicht gar nicht Karier selbst darstellt, sondern an einen gleichaltrigen Schulfreund, vielleicht sogar an Reimen, angelehnt ist. Doch solche Gedankenspielereien sind müßig, denn Kariers Überlegungen zu seinem Romanprojekt machen deutlich, dass es ihm nicht um eine reale Beschreibung der Wirklichkeit mit wie auch immer gearteten (auto-)biographischen Elementen geht, sondern um die Erfassung der Lebenswirklichkeit auf einer allgemeingültigeren, höheren Ebene.
Der Roman als Instrument der Wirklichkeitserfassung
In der Tat geht es in Kariers Notizen weniger um die Handlung, als um die inneren Beweggründe dieser Handlungen. So notiert Karier unter dem Titel Axiome meines Romans? den Ausgangspunkt der Handlung: Ein junger Mann geht zum Studium nach Paris, doch seine Hoffnungen werden enttäuscht. "Problem der ignorierten Wirklichkeit und des aufgezwungenen Doppellebens". [...] Er spielt Theater (in einem Kreis gefangen) [...] NICHT STRUKTUR DER WELT, SONDERN SEIN INNENLEBEN ALS AUSGANGSPUNKT" (Mappe Dez. 1956, handschr., S. R22).
Karier versucht immer wieder, seine literarischen Ansprüche in Worte zu fassen, sich selbst klar darüber zu werden, was seine Ziele sind. "Balduin, ein Versuch zur bestmöglichen Existenz, aus der Struktur des Gegebenen Individualität und Realität heraus." Dazu möchte er einen ganz besonderen Stil für sich finden, der eben dieser Zielsetzung gerecht wird: "Zeichensprache, d.h. leichte Verrückung des normal Gemeinten, oder nicht Verrückung, sondern Durchstrahlung." (Mappe Dez. 1956, schreibmasch., S. 1) Um sich diesen Stil anzueignen schreibt er immer wieder, wie oben erwähnt, die gleichen Passagen leicht um.
Auf den nächsten beiden Seiten finden sich dann einige Passagen aus dem Roman, doch bereits auf Seite 4 schwenkt Karier aus der Geschichte zurück in die Schreibtheorie. Ein Gespräch über Fußball, das in Stil und Themenwahl an Geschichten von Roger Manderscheid erinnert, steht unmittelbar vor nüchternen schriftstellerischen Überlegungen:
"Erstes Kapitel, die Gespräche der Arbeiter im Coupé nebenan, Balduin nimmt sie wahr wie die Landschaft draussen, der hoppelnde Hase usw, später im anderen Zug fällt ihm ein, und er denkt nach, so wie er kann, das ist aber die wichtige Frage, ob alles Reflektierte nur das Niveau Balduins hat, oder ob der Autor von seinem jetzigen Standpunkt mitredet? Oder ob der Autor mitredet in Anpassung an Balduin?" (Mappe Dez. 1956, schreibmasch., S. 4)
Neben Fragen zur Erzählperspektive finden sich in Kariers Notizen auch immer wieder allgemeine Überlegungen zu Sinn und Grenzen eines Romans, gespickt mit Referenzen auf literarische Vorbilder, wie etwa Robert Musil. Er vergleicht seine Vorgehensweise beim Verfassen eines Romans mit denen Dostojevskis und seines Freundes Reimen, die Kariers Auffassung nach beide eine andere Herangehensweise haben. (S. 7)
All diese Reflexionen lassen Karier immer wieder vom eigentlichen Vorhaben, dem tatsächlichen Schreiben, abschweifen. So verfasst er auf Seite 8 einen neuen Beginn für seinen Roman: "Der junge Mann, von dem mit Vorliebe hier die Rede sein wird, war (zivilrechtlich gesehen) eben erst ein Mann geworden ...", um dann gleich wieder in philosophische Überlegungen abzuschweifen. Dabei ist es schwer, auseinanderzuhalten, was Teil des Romans ist, und wo der Autor Szenen aus seiner eigenen Umgebung beschreibt. "Knattern der Motorräder rechts von mir über die Straße" (S. 8). Manchmal ist auch nicht ersichtlich, ob Karier seinen eigenen Schreibprozess beschreibt oder den der gedichteverfassenden Hauptfigur: "[...] anfing die Hefte und Blätter, die er mit Notizen beschrieben hatte vor sich auf den Tisch zu legen, er las Sätze durcheinander, indem er das Papier ziellos durch seine Hände gleiten ließ. Was wollte er? Die Vergangenheit, wie sie hier unbewältigt, fragmentarisch vor Augen lag, vernichten, verflüchtigen, so dass alles noch möglich wäre." (S. 9)
Karier ist sich durchaus bewusst, dass ihn diese unergiebige Vorgehensweise, trotz aller Entschlossenheit, nicht weiterbringt. Im Dezember notiert er frustriert in Großbuchstaben: "GEFAHR DES FORTWURSTELNS: ANWACHSEN VON HAUFEN NOTIZEN OHNE ERGEBNIS. TÄGLICH ZWEI STUNDEN ROMAN." (S. 16) Kariers hohe Ansprüche an sein Erstlingswerk verhindern letztendlich dessen Entstehung. Nach 1956 scheint er, so weit aus dem Nachlass ersichtlich, nicht mehr am Roman gearbeitet zu haben. Stattdessen feilt er weiter an Überlegungen zum Roman als "Instrument der Wirklichkeitserfassung" (Mappe Jan. ̵ Juli 1957) und zur Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft (Mappe Sept. 1957 ̵ Jan. 1958).
Es sind gerade diese über Jahre gereiften Gedanken, die seine späteren Schriftstellerkollegen nach seiner Rückkehr nach Luxemburg so sehr an Karier schätzen. Karier stellt an die junge Luxemburger Literaturszene genau so hohe Ansprüche wie an sich selbst, mit der festen Überzeugung, dass dies hohe Ziel auch erreichbar ist. Er wehrt sich gegen Kleingeistigkeit und weigert sich, es sich in der Mittelmäßigkeit bequem zu machen. Dies wird besonders deutlich in Kariers Kritischer Monolog eines Beteiligten. 24 In diesem zweiseitigen Artikel über die neuen Literaturhefte impuls weist er den oft gemachten Vorwurf, es könne "hierzulande nichts Großes entstehen" entschieden zurück: "Es ist das Abwinken dessen, der nicht mehr glauben, der nicht enttäuscht und nicht gestört werden will. [...] [D]ie sprachliche Folge der Defensivhaltung: die Angst vor Fehlern. (Nichts ist deprimierender hierzuland, als wenn man sich gegenseitig sprachliche Schnitzer nachzuweisen sucht, als ob damit das Eingehn auf die Sache sich erübrigte.)" Den Glauben an die Entwicklungsfähigkeit der Luxemburger Literatur teilte Karier mit anderen Schriftstellern seiner Generation, und die Werke, die aus dieser Haltung heraus entstanden, gaben ihnen letztendlich Recht.
Bibliographie:
1 M.R.: Wachsblumen brennend gen Himmel? In: Lëtzebuerger Land 03.11.1967.
2 Cornel Meder: Zerknirschung im Falle Karier. In: Le Phare 11.11.1967.
3 siehe Studienbücher und Immatrikulationsscheine im Fonds F. Karier.
4 Tapuskript. Mappe Jan. ̵ Okt. 1956. CNL L-9 Fonds F. Karier.
5 Abschlussdiplom der Examens pour la collation des grades, ausgestellt am 8.11.1958. Fonds F. Karier.
6 Alain Weins: Kann Poesie die Welt verändern? Echternach: Phi; Mersch: CNL, 1999. S. 27.
7 Henri Blaise: Literarisches Weekend in Mondorf. In: Luxemburger Wort 04.10.1964.
8 Wie Fernand Kariers Witwe, Zannie Cambier-Rasquin, in einem Telefongespräch im Juli 2017 erwähnte.
9 Claude Conter: Fernand Karier. In: Le Phare 12.10.1968.
10 Claude Conter: Fernand Karier. In: La Voix 161, Jan. 1968. S. 2.
11 Jos Weyder: Fernand Karier. In: Journal des professeurs (APESS) 47, Sept. 1968. S. 301.
12 laut Aussage seines Sohnes Steve Karier, Gespräch September 2017.
13 René Reimen: FK, en mémoire. Au nom d'un éblouissement adolescent partagé. In: Galerie 4/2008. S. 611-620.
14 Claude Conter: Fernand Karier. In: La Voix 161, Jan. 1968. S. 2.
15 Guy Wagner: Zehn Jahre... In: Tageblatt 18.11.1977.
16 Alphonse Jacoby: In Memoriam Fernand Karier. In: Min. Ed. nat.: Chroniques 1967-1968 Lycée de garçons d'Esch/Alzette, 1968, S. 130-131.
17 Mappe 1954, 13 handgeschriebene Notizblätter und ein Tapuskript.
18 Studienbuch Universität München, Fonds F. Karier.
19 Mappe 1955. 8 Blätter aus einem Heft.
20 "Georg Kolbe: seine Frauen entsprechen meinem Susi-Typ." In: Mappe Jan. ̵ Okt. 1956. Okt. 56/11.
21 Brief an einen Freund, laut anderer Stelle handelt es sich um R. [=René Reimen], 4.10.1956.
22 Reimen selbst bestätigte dies in Telefongesprächen, Juli-Okt. 2017.
23 [Jean-]René Reimen: FK, en mémoire. In: Galerie 4/2008, S. 611-620.
24 Fernand Karier: Kritischer Monolog eines Beteiligten. In: La Voix 152, Dez. 1965.
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