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Und Kunst wird zeitlos ruhiges Gelingen, in dem Natur mit Geist sich rein verbindet. Bisher unbekannte Jugendgedichte von Fernand Karier


[ About the article]
 
Fernand Karier gehörte in den 1960er Jahren zur impuls-Gruppe um Cornel Meder, zu der auch bekanntere Autoren wie die Servais-Preisträger Jean-Paul Jacobs und Roger Manderscheid zählten. Sein früher Tod – er starb 1967 im Alter von nur 33 Jahren bei einem Autounfall – beendete die kurze Schaffensperiode, in der er seine Werke als reif genug empfand, um mit ihnen an die Öffentlichkeit zu treten. So blieb es bei nur drei veröffentlichten Kurzgeschichten: Juden, Anfang und, posthum, Oft sitze ich. Sein literarischer Nachlass, der sich seit 2017 integral im Luxemburger Literaturarchiv in Mersch befindet, ermöglichte es erstmals, das Werden dieses Schriftstellers anhand seiner Aufzeichnungen und eines unveröffentlicht gebliebenen Romanentwurfs sowie Korrespondenz und anderer Lebensdokumente aus den fünfziger Jahren nachzuvollziehen.1
 
Bei einer detaillierten Bestandsaufnahme fand sich nun, versteckt zwischen Schulheften und Notizen zu Philosophiekursen an der Universität, eine ganze Reihe loser Blätter, die bei näherer Betrachtung ein zusammenhängendes Konvolut bilden.2 Es handelt sich um 84 deutschsprachige Gedichte, zunächst handschriftlich auf herausgetrennte Heftseiten notiert, und anschließend sorgfältig mit der Schreibmaschine ins Reine geschrieben. Es sind überwiegend kurze Gedichte, einige nur wenige Verse lang, selten länger als eine Seite. Auf ein paar Blättern hat der Autor gar mit Bleistift das Versmaß hinzugefügt, etwa bei Abend (Nr 58, 27.02.1954) oder Der Zeitenzirkel (Nr 68, [Dez. 1954]).3
 
Ein Großteil der Manuskripte hat der Dichter selbst am Ende des jeweiligen Gedichts mit einem Datum versehen, so dass die Werke in eine chronologische Reihenfolge gebracht werden konnten. Das erste Gedicht trägt den Titel Kindheit und ist auf Dezember 1951 datiert. Damals besuchte der Siebzehnjährige die 12. Klasse (Deuxième) des Lycée de garçons in Esch/Alzette. Das letzte datierte Gedicht stammt vom 4. September 1957. Damals war der Autor 23 Jahre alt. Die Gedichte stammen also allesamt aus der späten Jugendzeit Kariers, ein Lebensabschnitt, in dem einschneidende Entscheidungen im Hinblick auf das spätere Berufsleben getroffen werden mussten. Das Ende der Schulzeit in der heimatlichen Kleinstadt und die Neuorientierung als Literatur- und Philosophiestudent in zwei großen, ausländischen Universitätsstädten wurde von Fernand Karier sehr deutlich als Zäsur wahrgenommen und er versuchte, sich anhand literarischer Kreativität seiner Möglichkeiten und eigenen Position bewusst zu werden.
 
In der Auseinandersetzung mit Fernand Kariers Werk wurde bislang nicht erwähnt, dass der für seine Kurzprosa bekannte Autor in seiner Jugend auch Gedichte schrieb. Nun ist es für Schriftsteller nicht unüblich, sich in ersten literarischen Gehversuchen an Lyrik zu versuchen, die – auch dies ist fast schon ein Klischee – oftmals unveröffentlicht bleibt und meist nur wenig Gemeinsamkeit mit dem späteren Werk des Autors aufweist. Kariers engster Jugendfreund und Klassenkamerad ist der spätere romanische Linguist Jean-René Reimen. Die beiden lernen sich zu Schulbeginn auf Première kennen, als Reimen aufgrund eines Sektionswechsels neu in die Klasse kommt. Jahrzehnte später beschreibt Reimen den Freund in einem Artikel als "lecteur boulimique", der ihn mit neuen Autoren, etwa Robert Musil und seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, bekannt macht. Diese Lektüren bestärken die Jugendlichen in ihrem Traum, ein von gesellschaftlichen Ängsten freies, selbstbestimmtes Leben zu führen, kurz, wie Reimen es ausdrückt, das programme stendhalien durchzuziehen: "Aimer. Prendre figure, être soi, à terme."4 Die Freunde diskutieren über Simone Weil, Gottfried Benn, Franz Kafka, Rainer-Maria Rilke. Doch trotz teilweise sehr detailreicher Schilderungen erwähnt der Artikel nicht, dass Karier sich damals auch selbst als Dichter versuchte. In einem längeren Brief an Karier jedoch, datiert auf den 09.06.1955, schreibt Reimen, der zu dieser Zeit in Paris studiert: "Il me reste assez de mémoire toutefois, pour te demander une explication des vers que tu m'as amicalement fait connaître. Je ne comprends pas en effet à quelle situation tu les rapportes, ni ce qu'ils signifient en eux-mêmes."5 Auf meine Nachfrage hin konnte sich Reimen leider nicht mehr an einzelne Gedichte von Karier erinnern, die er gelesen haben soll. Interessanterweise heißt ein Gedicht, datiert auf den 04.06.1955, also eine Woche vor Reimens Brief, Paris. Es ist ein hermetisches Gedicht voll düsterer Stimmung vor dem Hintergrund einer Gewitterszene in der französischen Metropole. Die Schlussstrophe allein reicht, um Reimens Nachfrage, was die Zeilen denn zu bedeuten hätten, zu erklären:
 
"Gesicht verbirgt Gesicht,
die toten Wolken schwären,
zerspelln den Blick ins Licht
noch Mythen und Chimären"
 
Auch andere Einflüsse aus Kariers Leben lassen sich an den Gedichten wiedererkennen: Im Herbst 1953 beginnen die Freunde ein Philosophiestudium an den Cours supérieurs in Luxemburg, unter anderem bei Jules Prussen.6 Reimen erklärt, das Studium habe ihre Gespräche verändert, ihr Denken sei nun vermehrt "chargé de concepts, de tours et détours, de pirouettes, de mots de passe."7 Einflüsse dieser Studien zeigen sich erstmals in den Gedichten Ophelia und Der Blinde spricht, beide datiert auf Dezember 1953.
 
Worum geht es nun im Einzelnen in diesen ersten literarischen Gehversuchen des späteren Kurzprosaautors? Einzelne Motive ziehen sich durch das gesamte Konvolut und tauchen, in verschiedensten Formen, wiederholt auf. Dazu gehört etwa das Konzept der Göttlichkeit: Gott, du warst wie in Gewittern, ist der Titel eines frühen Gedichts vom Februar 1952 (Nr 9). Darin heißt es:
 
"Ich muss dich abtragen
o Gott, Stein für Stein
in mich hinein
verlegen.
 
Mir hilft kein Namen-Sagen,
und selbst wenn tausend Stimmen riefen
Du musst Dich regen
können und wachsen in die Tiefen."
 
Ähnliche Gedanken vermittelt Karier in Gott, du bist der Mundgerechte (Nr. 41, 1954). Gott erscheint hier, und deutlicher noch in späteren Gedichten, als erhabene und erhebende Idee, etwa wenn Karier schreibt "Jetzt träum ich in dir, / dem Gotte vermacht" (Das Gedicht, Nr 60, 04.03.1954) und "Dem Gotte, der mich auserkor / versprach ich strenge Hörigkeit" (Nr 62, 10.03.1954). Hier wird klar, dass Gott als Metapher für die Kunst fungiert, der Karier sich verschrieben hat, das Ideal einer bedeutsamen, vielschichtigen und auf philosophischen Richtlinien fundierten Literatur, das er kurz darauf in seinem Romanprojekt zu erfassen versucht.8
 
Ein weiteres wiederkehrendes Motiv ist die Gestalt des Blinden. In Der Blinde (Nr 10, März 1952) steht die Figur für den Dichter auf der Suche nach Sinn und nach sich selbst. Karier beschreibt seine Gefühle gegenüber dem Erhabenen, dem Göttlichen, dem unerreichten Ideal. Hier alle drei Strophen, die sich wie ein Gebet, eine Inkantation, lesen:
 
"Ich bin zu.
In meine helle Mitte
fiel ein Schwarzes. Du aber, du –
hörst du meine stumme Bitte?
 
Nein, du stehst am letzten Ende
irgendwo grausames Licht.
Mein Gefühl, das ich verschwende
sucht und sucht, und findet nicht.
 
Vieles bricht in mir zusammen,
treu bleibt mir die Erde bloß,
Dunkel, du dem wir entstammen,
mach mein Dunkel minder groß."
 
Die Figur des Blinden kommt nochmals in Der Blinde spricht (Nr 35, Ende 1953) und Der Erblindete (Nr 57, Februar 1954) vor. Hier ist nicht nur das Lyrische Ich blind, sondern es wird auch von Anderen nicht wahrgenommen und fühlt sich als Außenseiter:
 
"Ihr andern seht und seht mich kaum
ich bin ein Ding in unbekanntem Raum."
 
 
Einflüsse in Kariers Dichtung
 
Bereits als Schüler zeigt Karier großes Interesse für klassische Motive, die er in einer Reihe von Gedichten verwendet, z.B. Euridykes [sic] Wiedergewinnung (Nr 27, [Januar 1953]) oder Ophelia. Unter diesem Titel schrieb Karier zwei unterschiedliche Gedichte, Nr 14 [Nov. 1952] und Nr 34 [Juni 1953]. In letzterem scheint sich Karier bei der Beschreibung Ophelias an John Everett Millais' Gemälde von 1852 inspiriert zu haben, während Euridykes Wiedergewinnung sich thematisch an Rainer Maria Rilkes Gedichtzyklus Orpheus. Eurydike. Hermes anlehnt.
 
Kariers künstlerische Vorlieben werden von seinen Klassenkameraden nicht geteilt. Das geht sowohl aus Reimens Artikel hervor, als auch aus dem Gedicht Meinen Dichtern, die "im Streite unterliegen" wenn Karier mit Freunden über Literatur diskutiert. Die wenigen Verse zeigen, wie verletzlich der junge Literat sich fühlt, auch wenn er die Erfahrung mit einem "was tut's" wegzuwischen versucht (Nr 11, Juni 1952). Karier widmet diesen Vorbildern einige Gedichte, z.B. An R.M. Rilke (Nr 30, 02.01.1953). Rilke wird hierin zu einem Außenseiter, der Großes leistet, dessen Kunst ihm vor allem aber hilft, zu sich selbst zu finden und den jungen Dichter inspiriert, es ihm gleichzutun:
 
"Mir bist du der kühne Springer, der sich selbst verlierend übersprang,
und so wurdest du der starke Singer, der sich auffing im Gesang zur Innigkeit."
 
Ein weiteres Gedicht ist dem österreichischen Lyriker Josef Weinheber (1892-1945) zugeeignet (An J. Weinheber, Nr 33, 28.08.1953). Auch in ihm sieht Karier einen Einzelgänger, einen "einsame[n] Wächter an der Sprache Hort / was galt ihm Hass und Ruhm der Menge". Dieses Nicht-Verstanden-Werden, das Karier, wie in Nr 11 deutlich wird, selbst empfindet, sublimiert der junge Dichter zur conditio sine qua non, um profunde Erkenntnisse über sich und die Welt zu erlangen. Er endet das Gedicht über Weinheber, der sich kurz vor der sowjetischen Einnahme Wiens 1945 das Leben nahm, mit den Versen: "Das Leiden machte ihn wahr. / Die Wahrheit brachte ihn um." Die Suche nach Selbsterkenntnis, "prendre figure, être soi" wie Reimen es ausdrückt, ist schmerzlich, ist Leiden, doch macht es das Ziel nicht weniger erstrebenswert.
 
Die gleiche Gesinnung zeigt sich in Jeanne d'Arc (Nr 13, 28.08.1952), die in Kariers Gedicht noch nicht als die unbeirrbare, zielsichere Anführerin auftaucht, als die sie in die Geschichte einging, sondern als junger Mensch, der versucht, den Mut aufzubringen, seine Träume zu verwirklichen:
 
"Sie wollte keinen Traum
Sie wollte mehr [...]
Noch schreckte sie ein Anschein
von verwirrenden Gerüchten,
noch stritt und flehte ihre Demut
fromm entsetzt."
 
Doch nicht nur verinnerlichte gesellschaftliche Konventionen halten Kariers Figuren zurück, auch die elterliche Liebe wird als Einengung empfunden, von der es sich zu emanzipieren gilt, so etwa in dem Gedicht Der Genesende Knabe (Nr 17, [Dez. 1952]):
 
"Was soll ich euch geben?
Mein Leben
habt ihr in Stücken.
Ihr wollt mich beglücken,
ein jeder schreit: ich.
Nur ich suche mich."
 
Die Suche nach sich selbst löst beim jugendlichen Dichter Unsicherheit, aber auch wachsenden Stolz und Selbstbewusstsein aus, wenn man etwa die Verse "Jähes Erschrecken: ich bin." (Nicht will ich schrein..., Nr 52, 1954) mit "Erdschweres Dasein, innwärts gewendet [...] Aber wir sind." (Blechdose rostet..., Nr 72, 09.06.1955) vergleicht. In Kindheit (Nr 63, 23.07.1954) verbindet Karier dieses Thema wiederum mit dem oben erwähnten Motiv des Blinden, hier in Gestalt des traditionellen blinden Sehers:
 
"Ich blicke in mein Angesicht
und frage leise: wer?
Ich bin es nicht.
Ich war. Ich frage: wer?
 
Ich gab mich selig hin,
nicht schuldig. Aber blind.
Ich seh. Was bin
ich nun? Noch immer blind."
 
Es handelt sich bei Kariers Lyrik um typische Jugendgedichte. Der Verfasser verortet sich selbst auf der Schwelle zum Erwachsensein und verarbeitet diese Umbruchstimmung in seinen Werken. Hierzu passen auch die wiederkehrenden Motive Tor, Tür und Schwelle: "Und jemand schließt ein letztes Tor" heißt es in Abend (Nr 58, 27.02.1954), und das darauffolgende Gedicht beginnt mit den Zeilen
 
"Da du die Schwelle ziellos überschritten,
schließ zu die Tür, entbiete deinen Gruß
dem unbetretnen Raum." (Nr 59, März 1954)
 
Zäsur und Aufbruch sind zu dieser Zeit wichtige Themen im Werk des Autors, der gerade das Abitur abgelegt hat und sich an den Cours supérieurs auf sein Auslandsstudium vorbereitet. Dabei tritt er dem neuen Lebensabschnitt teils beklommen, teils voll freudiger Entschlossenheit entgegen:
 
"und was mich anrührt ist wie eine Welle
die mich durchspült mit ihrer wehen Helle
und jeder Schritt führt über eine Schwelle...
Ach Träume hab ich zu verschwenden
und Schwarzes schlägt an meine Lenden,
doch Engel warten an den letzten Wenden."
 
(Der Blinde spricht, Nr 35, [Dez. 1953])
 
 
Die Gedichte als Vorläufer seines Romanprojekts
 
Bereits in diesen frühen Werken geht Karier vereinzelt auf das Thema Kunst ein, doch geht es hier noch um die Bewunderung eines bereits arrivierten Dichters oder die Beschreibung eines Kunstwerks, wie etwa in Maria (Gotische Plastik), das als Ausgangspunkt für philosophische Überlegungen, hier über Religion, dient (Nr 12, Juli 1952). Doch Ende 1954 beginnt Karier, der nun an der Sorbonne studiert, sich intensiver mit der Frage "Was ist Kunst?" zu beschäftigen, etwa in dem Vierzeiler Nr. 45:
 
"Wer die Gefühle innig überwindet,
empfängt die heitre Fühlung an den Dingen,
und Kunst wird zeitlos ruhiges Gelingen,
in dem Natur mit Geist sich rein verbindet."
 
Das Thema Kunst spielt ebenfalls eine zentrale Rolle in dem Gedicht Die Schauspielerin, das mit dem Fazit endet: "Und Kunst besteht. Sie aber war." (Nr 54, 1954) Diese Umschreibung der Ars longa, vita brevis Sentenz findet sich auch in Kariers Überlegungen zu seinem Romanprojekt, das er in dem Jahr erstmals in seinen Aufzeichnungen erwähnt.9
 
Auf den ersten Blick mag ein Romanprojekt wie ein Bruch mit der dichten, knappen Lyrik erscheinen, die Karier bis dahin schrieb. Doch stilistisch haben beide Gattungen, so wie Karier sie handhabt, einige Parallelen aufzuweisen. Auch in seinem Romanfragment dominieren knappe Sätze, philosophische Sentenzen, Gedanken und Stimmungsbilder. Und gerade solche Stimmungsbilder finden sich bereits in den späteren Gedichten, wie etwa Vorfrühling (Nr 37 a/b, [1954]), Abend (Nr 71, 08.06.1955) und Wintertag (Nr 74, 15.05.1955). Aber auch frühere Werke beinhalten vereinzelt bereits eine Art szenische Kurzprosa, wie etwa die Szene in Allerseelen (Nr 15, 04.11.1952), die die alljährliche Stimmung bei der Grabsegnung am 2. November in Luxemburg gekonnt einfängt:
 
"unbekümmert, manche weinten.
Auf den schöngepflegten Wegen
kam Gesang her und Geruch,
feierlich, und andere verneinten
die Dastehenden aus einem Buch,
zuletzt fiel Regen."
 
Doch vor allem spätere Gedichte wie Spital (Nr 56, 10.02.1954) und Interieur (Nr 67, Dez. 1954) setzen vermehrt auf die lakonische Beschreibung von, vielleicht real erlebten, Szenen. Der Erzähler erscheint als emotionsloser, unbeweglicher Zuschauer, der die Ereignisse an sich vorbeilaufen sieht, eine Technik die Karier auch in späteren Prosastücken anwendet, wie etwa in der unveröffentlichten Streitszene zwischen einem Mann und einer Frau, die der Erzähler von seinem Fenster aus mitverfolgt,10 oder auch in der posthum veröffentlichten Kurzgeschichte Oft sitze ich...11. Stillschweigend, unbeweglich und für seine Umgebung unmerklich versetzt sich Karier in seine Mitmenschen hinein, etwa wenn er in Alltagsnotizen aus seiner Studienzeit berichtet, er habe seinen "Atem auf den einer Frau eingestellt, die vor mir saß."12
 
Das Motiv des stillen Beobachters findet sich auch in Am Fenster (Nr 53, 1954). Die Welt, die der Dichter in seinen Werken wie ein unbeteiligter Außenstehender mit stillem Interesse wahrnimmt und in seiner Fantasie ausbaut, wird hier als eine nützliche äußere Notwendigkeit dargestellt, der man sich täglich stellt, da dies rational sinnvoll erscheint:
 
"Still bejah ich jeglichen Andrang
des Herzens, flehe um eins: Beugung unter den gnädig gesetzten Zwang."
 
In ganz ähnlichen Worten beschreibt Karier sein Verhältnis zum Alltag auch in einem Text an seinen Freund Reimen: "Ich habe mit vielen Menschen gemeinsam, mich frei zu fühlen im Zwang der täglichen Arbeiten."13
 
In dieser Schaffensphase beschäftigt sich Karier erstmals literarisch mit Liebe und Erotik. Das Gedicht Die Liebende (Nr 61, 07.03.1954) beschreibt eine dysfunktionale sexuelle Beziehung. Der fiktive Sprecher vermeint zu erkennen, dass die Liebesschwüre der Frau nur vorgespielt sind, dass sie ihn lediglich für ihre Zwecke benutzt ("du liebst nur deinen Lustbegehr in mir") ohne ihn zu verstehen, und so bleibt er, wiederum nur stiller Beobachter des Geschehens, aus Unsicherheit und Selbstschutz emotional unbeteiligt:
 
"geb ich mich hin – du bist so leicht gewiss –
gehör ich mir und dem den ich vermiss
in dir."
 
Die Gedichte hören im September 1955 auf, und genau zu dieser Zeit beginnt Karier, sich mit der Idee eines Romans zu befassen. Die Gedichte können also als eine Art unbewusstes Warmlaufen für das ambitioniertere Romanprojekt gesehen werden, das er nun in Angriff nimmt. Obwohl Karier in den darauffolgenden Monaten seine literarische Herangehensweise im Detail analysiert, erwähnt er seine bisherigen Gedichte mit keinem Wort.14 In den Notizen aus dieser Zeit befinden sich keine neuen Gedichte, höchstens das äußerst interessante Einmal ist keinmal, ein Dialog zwischen Engel und Teufel, wäre in diesem Kontext zu nennen.15
 
Dann, anderthalb Jahre später, tauchen nochmals neun Gedichte im Konvolut auf, datiert auf Februar, April und September 1957. Im November 1956 schreibt Karier an seinen Freund Claude Girard: "Je fais la chasse aux Gretchen – toute ironie à part – sans grand résultat malheureusement",16 und in der Tat wendet sich Karier in diesen späteren Werken größtenteils, in hermetischer Sprache, der für den Ich-Erzähler unbefriedigenden Begegnung mit Frauen zu. Die weibliche Figur wird als Träumerin bezeichnet, die, wie bereits die Liebende, "sanfte Lüge" verhaucht und deren Liebe vermeintlich nicht ihm, sondern sich selbst gilt ("mit niemandem als sich verkehrt"; Nr. 83, 19.04.1957).
 
Mit Mein Schattenriss auf dir (Nr 84, 04.09.1957) endet Fernand Kariers lyrische Schaffensperiode. Zumindest sind keine weiteren Gedichte überliefert und es wird acht weitere Jahre dauern – in denen Karier eine Stelle als Gymnasiallehrer antritt, das Staatsexamen ablegt und eine Familie gründet – bis der Autor mit der Kurzgeschichte Juden über die Erlebnisse eines Luxemburger Jungen im Zweiten Weltkrieg in die Luxemburger Literaturszene eintritt.
 

 
Bibliographie:
 
1 Sandra Schmit: Im blinden Glauben, dass der erste Schritt je schon der zweite ist. Unveröffentlichte, frühe Schreibversuche des Schriftstellers Fernand Karier. In: Galerie 3/2017. S. 396-413.
2 Mein besonderer Dank gilt Jeannette Zimmer, die die Gedichte beim Durchsehen entdeckte und in eine chronologische Reihenfolge brachte. Eine vollständige Liste der Gedichte findet sich im Archivkatalog www.a-z.lu unter der Signatur CNL L-9; I.1.1.
3 Die Nummern beziehen sich auf die oben erwähnte chronologisch geordnete Gedichtliste.
4 Jean-René Reimen: FK, en mémoire. Au nom d'un éblouissement adolescent partagé. In: Galerie 4/2008. S. 611-620, hier: 612.
5 Brief von J.-R. Reimen an F. Karier, letzte Seite. CNL L-9; II.1 R1.
6 Detaillierten Aufschluss über Kariers Studien geben seine Studienbücher (CNL L-9; III.2) und seine Nachbereitungen von Philosophie- und Literaturkursen (CNL L-9; I.2.1).
7 Reimen 2008 [siehe oben] S. 617.
8 Schmit 2017 [siehe oben] S. 412-413.
9 [Projet d’un roman et autres fragments littéraires, 1954-1955]. CNL L-9; I.1.2.
10 [Projet d’un roman..., août 1957]. CNL L-9; I.1.8.
11 In: Doppelpunkt 4 (1968), S. 10-11.
12 [Projet d’un roman..., janvier 1957]. CNL L-9; I.1.7.
13 Reimen 2008 [siehe oben] S. 617.
14 Eine detailliertere Beschäftigung mit Kariers Romanprojekt könnte hier vielleicht doch noch den einen oder anderen Fingerzeig liefern, da viele Notizen handschriftlich vorliegen, schwer lesbar sind und bisher nicht im Einzelnen ausgewertet wurden.
15 [Projet d’un roman..., août 1957], S. 4. CNL L-9; I.1.8.
16 Brief von F. Karier an Claude Girard, 02.11.1956. CNL L-9; II.1 G1.
 

 

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